Die "Mathilde"

eine Hainstädter Institution seit 1861


 
1. Enstehungsgeschichte
 
Untrennbar verbunden mit der Hainstädter Ortsgeschichte ist die Kranken- und Sterbekasse "Mathilde", von den alten Hainstädtern kurz "Die Mathilde" genannt. Namensgeberin war vermutlich Großherzogin Mathilde von Hessen-Darmstadt (1813-1862), nach der auch die bekannte Mathildenhöhe in Darmstadt benannt ist. Aufzeichnungen, die dies belegen könnten, existieren leider nicht mehr. Deshalb kommt auch die Heilige Mathilde (895-968) als Namensgeberin in Frage, die für ihr wohltätiges Handeln heilig gesprochen wurde.
 
Das Gründungsjahr der Kasse ist das Jahr 1861, eine Zeit, in der es noch keinerlei soziale Absicherung der lohnabhängig Beschäftigten gab. Wer krank wurde, litt bittere Not. Aus dieser Not heraus wurden damals von der Arbeiterschaft vielerorts, so auch in Hainstadt, Selbsthilfeeinrichtungen in Form von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit gegründet, die für einen geringen Monatsbeitrag (z. B. 25 Pf im Jahre 1889) im Krankheitsfall den Betroffenen und deren Familien helfen konnten. Über viele Generationen hinweg war es bei den Hainstädtern deshalb üblich, nach Beendigung der Schulzeit und dem Beginn einer Lehre in die "Mathilde" einzutreten.
 
Zeitweise existierten neben der "Mathilde" noch zwei weitere Kassen: die "Hainstädter Zuschuss-Kasse" (1892-1913) und die "Sanitätskasse Hainstadt" (1901-1926). Beide Kassen sind in der "Mathilde" aufgegangen.
 
Ein Auszug aus einem Protokoll der Generalversammlung vom 30.Mai 1897 zeigt, daß sich die Mathilde schon vor über 100 Jahren für den medizinischen Fortschritt eingesetzt hat:
 
"Beschwerde des Kreisrates Haas wegen Nichtüberweisung der Krankenkassenmitglieder ins Krankenhaus nach Seligenstadt." Es wurde in der Generalversammlung der Beschluss gefasst mit folgendem Wortlaut: "Sollte das Krankenhaus in Seligenstadt den Anforderungen der Neuzeit entsprechen, so sei der Vorstand zu jeder Zeit bereit, die Kranken nach Seligenstadt ins Krankenhaus zu überweisen."
 
 
2. Demokratie bei der "Mathilde"
 
Von Anfang an war die "Mathilde" eine demokratische Einrichtung mit vollem Mitbestimmungsrecht der Mitglieder. Da es damals noch keine freie Arztwahl gab, konnten die Mitglieder sogar den von der Kasse zu verpflichtenden Kassenarzt wählen. Hier ein Auszug aus dem Protokoll der Generalversammlung vom 20. Dez. 1885: "Die heutige Generalversammlung hat die auf der Tagesordnung stehende Doktorfrage durch Abstimmung erledigt, so dass auf Dr. Kihn von Großauheim 164 Stimmen und auf Dr. Heeb von Großauheim 4 Stimmen fielen. Mithin ist Dr. Kihn zum Kassenarzt gewählt und die von ihm geforderte Summe von 1200 Mark bewilligt worden."
 
Ihre demokratische Struktur behielt die Kasse auch in der Nazizeit bei. Mehrfache Versuche der Nazis, die Kasse gleichzuschalten und das Führerprinzip einzuführen, wurden vom Vorstand unter Verweis auf die gültige Satzung abgewehrt. Bei den Wahlen zum Vorstand und zum Aufsichtsrat setzten sich die bewährten Kräfte mit überwältigender Mehrheit durch, die von den Nazis benannten Personen fielen jeweils mit Pauken und Trompeten durch. Ein sehr mutiges Verhalten des Vorstandes und der Mitglieder in der damaligen Zeit.
 
3. Erste Arztpraxis in Hainstadt
 
Die erste Arztpraxis in Hainstadt wurde auf Betreiben der Kasse im Jahre 1905 geschaffen und Dr. Alois Euteneuer als erster in Hainstadt ansässiger Kassenarzt gewählt. Eine eigene Arztpraxis in einem Ort von gerade mal 1500 Einwohnern war damals eher eine Seltenheit und der Initiative des damaligen Vorstands der "Mathilde" zu verdanken. Dr. Alois Euteneuers Praxis wurde später von seinem Sohn Felix übernommen. In dem ehemaligen Arzthaus in der Martinstr. 1 leben heute noch die Witwe und die Tochter von Dr. Felix Euteneuer.
 
4. Die "gute, alte Zeit"
 
Dass es in Hainstadt in der sog. "guten, alten Zeit" mitunter recht raubeinig zuging, davon zeugt ein Protokollausschnitt der Generalversammlung vom 26. Dez. 1897: "Der Vorstand beantragt, dass Mitglieder, welche bei Schlägereien und Raufhändeln verletzt werden und hierfür Krankenunterstützung beanspruchen, verpflichtet sind, den Täter gerichtlich zu belangen und zwar so, dass die Kasse alles zurück erhält, was sie an Unterstützung geleistet hat. Desgleichen müssen die Beträge für Doktor- und Apothekerrechnungen mit eingeklagt werden. Der Antrag des Vorstands rief eine längere Debatte hervor. Bei der Abstimmung, welche durch Akklamation stattfand, wurde der Antrag angenommen."
 
Die Vereine klagen heute oft über mangelnde Teilnahme bei Mitgliederversammlungen. Wie man früher das vollzählige Erscheinen der Mitglieder sicher stellte, belegt ein Satz aus dem Einladungsschreiben zur Mitgliederversammlung am 14. Dez. 1935, der lautet: " Ohne hinreichende Entschuldigung fehlende, stimmberechtigte Mitglieder werden mit 30 Pfg. Strafe belegt."
 
Eine Apotheke gab es in der guten, alten Zeit in Hainstadt natürlich auch noch nicht. Um die Versorgung der Hainstädter mit Arzneimitteln kümmerte sich damals die "Mathilde". Im Protokoll der Vorstandssitzung vom 6. Jan. 1893 heißt es zum Beispiel: "Es wurde beschlossen, dem Boten für die Besorgung der Medikamente für die Zeit vom 1. Jan. 1893 bis 1. Jan. 1894 einen Zuschuss von 20 Mark von der Kasse zu gewähren."
 
 
Auch die Gemeinde Hainstadt und der Gasversorgungsverband Hainstadt arbeiteten mit der Mathilde zusammen. Dies belegt ein Darlehensvertrag über 10000,- Reichsmark aus dem Jahr 1931.
 
5. Die Vorsitzenden
 
Leider sind aus den Jahren 1861 bis 1883 keine Aufzeichnungen mehr vorhanden. Die Vorsitzenden danach waren: August Löfflat (1884-1889 u. 1892-1895), Nikolaus Blumöhr (1890-1892), Peter M. Wissel (1896-1910), Karl Joh. Kohl (1910-1915), Adam Nikolaus Dehmer (1915-1950), Karl Kohl (1950-1957), Adam Urban Böhn (1957-1973 u. 1974-1975), Ehrenfried Böhn (1973-1974), Arnold Schuh (1975-1977), Hans-Jürgen Wolf (1977-1991), Edmund Böhn (1991-2009), Rudolf Kaller (seit 2010).
 
6. Die "Mathilde" heute (2010)
 
Heute bietet die "Mathilde" ihren rund 900 Mitgliedern neben der Sterbeversicherung vor allem Schutz vor überhöhten Krankheitskosten in Form von diversen Zusatzversicherungen.
Individuelle Beratung gab es in der Geschäftsstelle, Ernst-Ludwig-Str. Die Öffnungszeiten waren Montags und Freitags von 9.00 bis 11.30 Uhr sowie Donnerstags von 15.30 bis 18.00 Uhr. Telefon: 06182/yyyy; e-mail: @mathilde-hainstadt
 
Heinz Wich, Geschäftsführer
 
 
Ergänzung des Webmasters: Im Jahre 2019 wurde die Mathilde aufgegeben und für immer geschlossen. Die Versichertenanteile wurden ausgezahlt. Hier ist wieder ein Stück erfolgreicher Geschichte für immer vorüber.
 
 

Die Geschäftsstelle der Mathilde im Jahr 2009
 
 
Auf dem Bild: Frau Pohl, Herr Wich, Frau Gilbert (v.l.)
 
 

Vielen Dank an Heinz Wich; letzte Änderung: 07.08.2009/04.12.2010/26.11.2020